Montag, 4. November 2019

Wie ich den Weg in die Freiheit erlebte ...

Schon wieder jähren sich die historischen Tage um den Mauerfall 1989. In diesem Jahr ist es auch noch eine runde Zahl. Was geht mir nicht alles durch den Kopf? Erinnerungen werden wach. Wie habe ich die Zeit damals erlebt? Was ist aus meinen Träumen geworden? Was hat sich seitdem geändert?

Ich lebte im Herzen Berlins, nahe der Oranienburger Straße, und stand am Anfang meiner beruflichen Karriere. Als Schabowski am 09.11.1989, einem Donnerstag, abends im Fernsehen verkündete, dass jeder DDR-Bürger reisen kann, habe ich das zunächst gar nicht wahrgenommen. Erst kurz vorher hatte man doch vollmundig verkündet, dass die Mauer noch 100 Jahre stehen würde. Die neu gewonnene Reisefreiheit registrierte ich erst mit den hochgezogenen Schlagbäumen.
Am nächsten Tag, Freitag, war die Konzentration auf die Arbeit natürlich unmöglich. Es gab für uns nur ein Thema: Reisefreiheit. Wir konnten nicht glauben, was geschehen war. Die Mauer durchlässig? Den Arbeitstag bekamen wir mit Fragen und Diskussionen um. Wir feierten, bis uns die Neugier übermannte.

"Wir treffen uns im KRANZLER am KU'DAMM", lachten wir, und schon waren wir weg.

Mit mehreren Leuten machten wir uns auf den Weg zum Grenzübergang MOABIT.
Ich erinnere mich an das mulmige Gefühl, das mich unterwegs beschlichen hatte, wollte ich doch abends wieder zu Hause sein. Hoffentlich hielten die uns an der Grenze im Westen nicht zurück. Ich machte mir Sorgen, der Westteil der Stadt war mir natürlich völlig unbekannt. Meinen Kollegen musste es genauso gegangen sein, denn auf die Unruhe folgte eine gähnende Stille. Jeder war in sich gekehrt, je näher wir der Grenze kamen. 
Würde man uns rüber lassen? Wie würde es im Westen sein? Kamen wir wohlbehalten wieder zurück? Bekam man wirklich Geld zur Begrüßung?

An der Grenze, viele Menschen warteten dort - gingen rüber und kamen zurück, wurden unsere Ausweise kontrolliert. Reisepässe hatten wir keine. Die wurden ja bisher nicht gebraucht. Endlich folgte der Stempel in unsere Papiere, und der Weg in den Westen war frei. Wir fühlten uns frei!
Wir fassten uns bei den Händen, wussten gar nicht, wie uns geschah. Ein kleines Tänzchen auf der belebten Straße zauberte manchem Zuschauer ein verständnisvolles Lächeln aufs Gesicht.

Wie ich den Weg in die Freiheit erlebte ... Blog Silke Boldt
Lichtgrenze 2014 entlang der ehemaligen Berliner Mauer





Die Geschäftsstraße mit einigen Banken lag vor uns. Unter die Dankbarkeit für das Geld mischte sich leise ein Gefühl des Bittstellers, umklammerte mich sogar einen Moment eine düstere Mauerstimmung, welche jedoch in der Euphorie der Ereignisse schnell verblasste. Völlig fremde Leute lagen sich in den Armen, weinten und lachten. In diesen Augenblicken wurde Geschichte geschrieben, aber das wurde uns erst später bewusst.
Unter unsere Träume, die auf einmal auf uns niederprasselten, mischte sich auch die Sorge. Wie würde unser Leben aussehen, wenn die Grenze offen blieb? Freude und Angst lagen so dicht beieinander. Es glich dem Wandern auf einem schmalen Grat.





Mit dem Geld in der Tasche, nie zuvor besaß ich D-Mark-Scheine, fühlte ich mich wie Rockefeller. Ich konnte die Welt erobern und kaufen, was ich wollte. Doch so sehr auch die Auslagen lockten, ich widerstand ihnen, wollte meinen Reichtum nicht verschwenden. Wir waren neugierig und offen für alles. Unsere Augen saugten jedes Detail auf. Wir hatten einen Riesenspaß und bemerkten gar nicht, wie die Zeit verging.
Wir neckten schalkhaft eine Kollegin, die ihrer Katze BREKKIES kaufte. Wir lästerten, ob denn die Mieze solche Sachen überhaupt vertragen würde, und freuten uns über unser Glück, diese aufregende Zeit erleben zu dürfen.

Es dunkelte, als wir die Heimreise antraten. Unsere Füße hatten ganze Arbeit geleistet. Mit einer Fülle von Eindrücken fuhr uns die S-Bahn zurück zum Ziel, nach Hause, von West nach Ost. Ich glaube, wir hatten, wie viele andere auch, die Tickets nicht bezahlt. Es herrschte ein Ausnahmezustand in der Stadt. Als der Zug in den Bahnhof FRIEDRICHSTRAßE einfuhr, hatte ich Mühe, meine Tränen fortzublinzeln. Zum ersten Mal kam ich von der anderen Seite an diesem Bahnsteig an, der auch als Tränenpalast in die Geschichte einging. Niemals hatte ich geglaubt, einmal hinter die verbotene Fassade des Bahnhofs fahren zu dürfen, oder je von dort zurückzukommen.

Übrigens war der Fall der Berliner Mauer mein ganz persönlicher Glücksfall. Bereits 2017 habe ich darüber einen Beitrag geschrieben: Warum der Fall der Berliner Mauer ein Glücksfall für mich war ...

Noch heute fühle ich Gänsehaut, wenn ich an den Weg in die Freiheit vor 30 Jahren zurückdenke, auf welchem neben dem Glück auch die Angst unser ständiger Begleiter war.


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