Montag, 21. September 2020

Auf manche Fragen gibt es keine Antworten

Aktuell wird viel diskutiert, ob Zuschauer in diesen Zeiten für ein Fußballspiel zugelassen werden oder nicht. Obwohl ich zur Stammbesatzung meines Heimatvereins Hansa Rostock gehöre, rückt diese Diskussion angesichts des Schicksals, von dem ich euch erzählen möchte, in den Hintergrund.

Ich bin ihm begegnet vor dem Ostseestadion, dem alten Mann mit den vielen Kleidungsstücken übereinander, schmutzig, abgerissen, notdürftig geflickt. Sein Gesicht gerötet, die Haut rissig, in der Hand eine Aldi-Tüte. Er durchwühlte die Abfallkörbe vor dem Stadion.

Auf manche Fragen gibt es keine Antworten - Blog Silke Boldt





Er trat auf mich zu. Ich fühlte Verunsicherung aufsteigen. Warum?

Mit krächzender Stimme fragte er mich nach einer Pfandflasche und einer Zeitung. Seine wässrig blauen Augen blickten bittend auf meine Coladose und die Stadionzeitung des Vereins in meinen Händen. Flaschen klirrten in seiner Tüte. Er trug das Behältnis wie ein Schutzschild vor seinem Körper. Wir musterten einander schweigend. Die Zeit bis zum Anpfiff wurde knapp.




"Ich wurde arbeitslos, hörte ich ihn sagen, die Frau lief weg, die Wohnung wurde mir gekündigt. Seitdem ...". Seine Stimme brach.
"Das tut mir leid", entgegnete ich reichlich unbeholfen.

Über die lärmende Umgebung legte sich eine traurige Stille. Andere Anwesende nahmen kaum Notiz von uns. Nochmals bat er um die leere Dose und die Zeitung. Ich reichte ihm die Büchse und trat aus der Menschenschlange vor dem Einlass. Was konnte ich noch tun? Ich mochte ihn nicht beleidigen.  Ich fragte ihn, ob ich zu der Zeitschrift noch etwas Geld hinzufügen dürfte. Er nickte. Ich übergab ihm alles Bargeld, was ich an diesem Nachmittag bei mir hatte. Es war ein bescheidener Betrag, eine momentane Hilfe, seine Not zu lindern.

Er bedankte sich blinzelnd, neigte den Kopf leicht beiseite. Doch ich sah die Traurigkeit in seinen Augen. Ich kämpfte mit den Tränen. Er winkte mir zu, wandte sich ab und verschwand in der Menge. Ich blieb bestürzt zurück mit Fragen, auf die ich keine Antwort fand.

Wie ist sein Leben? Mit wem redet er, all die Zeit allein auf der Straße? Wo geht er hin?
Wieso hat es ihn getroffen? Wie lange schon? Wie begegnet er der Einsamkeit?

Das Fußballspiel war trotz eines Heimsieges an diesem Nachmittag nur Nebensache. Es war nicht mehr wichtig. Meine Gedanken schweiften ständig ab. 

"Wir haben in der deutschen Gesellschaft zu viele Schiedsrichter und zu wenige Spieler." 
(Lothar Späth)

Die einen gewinnen, die anderen verlieren. Im Leben ist es wie im Spiel. Nur das Gewinnen zählt. Das Verlieren kommt mit einem Leid daher, auf das jeder gern verzichtet.

Obwohl die Begegnung bereits einige Monate zurückliegt, beschäftigen mich nach wie vor die offenen Fragen, weil dieser alte Mann mir verdeutlicht hat, wie stark er in seinem Schmerz ist.

Montag, 14. September 2020

Wie das so ist mit dem Schreiben

In dem Augenblick, da ich diesen Blogbeitrag schreibe, sollte ich doch schreiben. Moment mal, jetzt ist sie durchgedreht 😃 Sie schreibt doch.

Ich schreibe viel, wenn der Tag lang ist, aber oft nicht an meinen Projekten. Ich beantworte E-Mails, gebe schriftliche Kommentare ab, schreibe Blogartikel, bestücke meine Social-Media-Kanäle oder mache Eintragungen in mein Online Tagebuch. Klar, ich schreibe.

Wie das so ist mit dem Schreiben - Blog Silke Boldt



Aber wie ist das wirklich mit dem Schreiben?
Ich fühle mich da eher wie ein Blatt im Wind, das hin und her treibt oder irgendwo hinweht, ohne ein vorgegebenes Ziel.


Was ja auch wieder nicht stimmt. Das Ziel ist definiert, aber der Weg dorthin ist lang.


"Auf vielen Wegen kannst du dich verlieren. Finden nur auf deinem." (Else Pannek)

Ich tröste mich mit dem Wissen, dass Rosamunde Pilcher auch erst in den späteren Jahren ihren großen Durchbruch hatte. Bis dahin verbleibt mir noch ein bisschen Zeit. Kann ich demnach weitermachen wie bisher?
Bloß nicht. Will ich nicht, kann ich nicht, geht wirklich nicht. Warum? Wenn sich so weitermache, werde ich niemals fertig.

Manchmal ist es schwer, diszipliniert an einem Buch zu schreiben. Sobald mich eine neue Schreibidee überkommt, klammert sich diese an mir fest, geht mir unentwegt durch den Kopf, lässt mir keine Ruhe bis ich mich hinsetze und diese endlich aufschreibe, ja sogar die ersten Seiten und das grobe Handlungsgerüst wollen festgehalten werden. So entsteht immerzu ein neues Projekt. Ich habe derzeit ein paar angefangene mit mehreren bis vielen Seiten laufen. Und es hört nicht auf. Die neuen Ideen stürzen sich auf mich, und ich verliebe mich jedes Mal in sie. Den Einfällen muss ich doch nachgehen, oder? Womöglich führen sie zu einem Bestseller.

"Eine Idee ist wie ein Vogel. Wenn du sie nicht festhältst, fliegt sie davon." (Dittmar Prasse)

Ihr seht, alles fällt unter die Kategorie schreiben, bloß mit dem Umstand, dass ich mit den laufenden Projekten in dem Tempo nur langsam bis gar nicht vorankomme. Da nörgele und zetere ich herum, habe alles für euch festgehalten und merke erst nebenbei, dass es mir besser geht. Jetzt ist mein Kopf frei für's Schreiben.

Ich mache mich sofort an die Arbeit. Es wartet jede Menge auf mich ✍






Montag, 7. September 2020

Was ein Seemann mit meinem Krimi gemeinsam hat ...

Die nachstehende Episode ist Teil meines 2. noch unveröffentlichten Krimis. Für diesen Beitrag habe ich sie gekürzt und stellenweise neu verfasst zur Erinnerung an einen Seemann, dessen Worte unvergessen bleiben.

"Nicht Worte sollen wir lesen, sondern den Menschen, den wir hinter den Worten fühlen."
(Samuel Butler)
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Was ein Seemann mit meinem Krimi gemeinsam hat - Blog Silke Boldt

List betrat die schummrige Bar, quetschte sich zwischen unzähligen Leuten hindurch und setzte sich auf einen Barhocker. Neben ihm hockte ein Fremder.
»Wo kommst du denn her?«, deutete der auf seine nasse Kleidung.
List blickte an sich hinab. »War auf der Mole.«
»Spazieren? Im Dunkeln?« List nickte verlegen. »Warum?«
»Musste nachdenken.«
»Ach.«
...
»Öfter hier an der See?«
»Bisweilen«, gab sich List wortkarg.
»Ich bin Warnemünder«, unterhielt ihn der Fremde mit dem wettergegerbten Gesicht, »könnte nie woanders leben als am Meer. Das Meer ist unvergleichlich. Wusstest du das?«
»Ja.«
»Redest nicht viel oder?«
»Hm.«
»Ich bin früher zur See gefahren auf allen Weltmeeren, ging in zahlreichen Häfen an Land und liebte nichts mehr, als das Einlaufen in den Heimathafen. Wenn mich in der Ferne das Heimweh plagte, träumte ich von Rostock-Warnemünde. Man muss wissen, wohin man gehört.«
»Beneidenswerter Zustand«, murmelte List.
Eine Weile schwiegen sie gemeinsam.
...
»Ich kenne das Gefühl, auf der Stelle zu treten.« Die Augen des bärtigen Mannes musterten ihn wachsam.
»Woher weißt du das, Seemann?«
Der winkte ab. »Hauptsache, du bist von der Richtigkeit deines Handelns überzeugt.«
»Natürlich.«
»Dann treibe es voran!«
List wiegte den Kopf. »Wenn das so einfach wäre.«
Der andere lachte. »Es ist einfach.«  Wortlos hob er die Hand zum Gruß und verschwand in der Menge.

"Lass deine Taten sein wie deine Worte. Und deine Worte wie dein Herz."
(Ludwig Uhland)
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Mehr braucht es nicht. 💗Du, Seemann,💗 hast mir die Worte gelehrt. Deine Geschichten vom Meer, von der Fremde und der Liebe bleiben für immer in meinem Herzen. RIP.