Dienstag, 12. Januar 2016

Die Mutige - (M)ein Artikel über Ajla Holst

Suchend blickt sich die Kundin um, fragt nach der Filialleiterin.
„Sie hat Urlaub“, antwortet Ajla bestimmt. „Ich bin die Vertretung. Was kann ich für Sie tun?“ Abschätzend blickt die Frau sie an. Ajla Holst kennt solche Reaktionen. Ein leichter Schatten huscht über ihr Gesicht. Der Körper nimmt eine straffe Haltung ein. In Gedanken errät sie die Frage der Kundin. SIE sind die Stellvertretende Filialleiterin? 
Ajlas dunkle Augen blitzen verschmitzt. Unbeirrt bedient sie freundlich weiter. Viele Kunden betreten täglich das Geschäft.
„Frau Holst“, stürmt ein junger Mann herein, „vielen Dank für Ihre Beratung. Meine Freundin schwärmt von den Dessous.“ Ajla nickt, wie selbstverständlich. Bewegt denkt sie einen Augenblick an die Zeit vor ihrer Wandlung.

Sechzehn Jahre kümmerte sie sich um ihren deutschen Mann, dessen Wünsche, den gemeinsamen Haushalt und die Alltagsprobleme. Sie ertrug seine Launen, Demütigungen und Affären. Er belog sie, trug oft genug den Monatslohn in eine der Spielhallen Berlins. Als er sie schlug und das gemeinsame Kind bedrohte, lief sie mit ihrem kleinen Sohn davon, zu einer Freundin. Jene riet ihr zur Veränderung. Aber eine abgebrochene Lehre, eine gescheiterte Ehe, allein erziehend und kein Einkommen waren unglückliche Voraussetzungen für einen Neubeginn. Zudem belasteten sie das gestörte Verhältnis zu ihren Eltern und die tiefen seelischen Verletzungen. So tappte sie auf steinigem Weg einer unsicheren Zukunft entgegen, begleitet von Angst und Selbstzweifeln. Irgendwann besann sie sich ihrer Fähigkeiten, nutzte ihren starken Willen und die schnelle Auffassungsgabe. Sie sprach perfekt Deutsch, kämpfte mutig gegen Vorurteile. Beherzt fällte sie Entscheidungen für ihre Zukunft.
„Ich bin Türkin“,  so ihr erklärender Satz in jenem Vorstellungsgespräch. „Ja und?“, so die Antwort ihrer heutigen Chefin. Die erkannte ihr Potential, gab ihr eine Chance und spornte sie an, die Ausbildung zu vollenden - abends nach Arbeitsschluss. Es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen. Die Kollegin half ihr bei der Wohnungssuche und stützte sie während der Scheidung. Damals schüttelte Ajla das letzte Relikt ihrer Vergangenheit ab. Seit dem Tag fühlt sie sich endgültig befreit. Als die Vorgesetzte ihr, der fast vierzigjährigen Ajla, die stellvertretende Verantwortung für die Filiale übertrug, verspürte sie tiefen Stolz.

Natürlich könne sie die gewünschte Ware ebenso bestellen. Ajla lächelt. Sicher gleiten ihre Finger über die Tastatur des Computers. Aus den Augenwinkeln bemerkt sie das zufriedene Gesicht der Kundin. Sie könne die Produkte bereits nächste Woche abholen, teilt Ajla der Dame freundlich mit und geleitet sie bis vor die Tür.
Aus dem Schatten einer Vitrine tritt zögernd eine alte Frau hervor - Ajlas Mutter.
Stumm umarmt sie ihre Tochter, die Stellvertretende Filialleiterin, erkennt sie doch in den Augen ihres Kindes erregt jene mutige Neugier, die sie einst trieb, damals vor über dreißig Jahren, als sie ankamen - hier in Berlin.


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