Dienstag, 16. April 2013

Der Hahn und die Taube - eine Fabel






Die Fabel lebt vom Gegenspieler-Prinzip. Es gibt zwei Positionen, die sich gegenüber stehen. Fabeln werden durch Tiere verkörpert. Ich habe mich für den Hahn und die Taube entschieden, weil beide charakteristisch sehr polarisieren. Der geradlinige Handlungsverlauf mit den eingelegten Dialogen aus Für- und Widerrede führt schnell zum Höhepunkt. Das Ergebnis soll zum Mitdenken anregen.




Erschöpft ließ sich eine Taube auf dem Zaun eines Bauernhofes nieder.
„Ein herrlicher Platz. Es ist so friedlich hier.“
Kaum waren ihre Worte verhallt, lärmte es auf dem Hof. Der Bauer stolperte hinter einem Huhn her, packte es und ging mit ihm zum Haus. Erschrocken verfolgte die Taube das Geschehen ohne den Hahn zu bemerken.
Der hatte sie bereits eine Weile beobachtet.
Da sie ihn nicht beachtete, half er nach, sich ihr zu präsentieren. Mit aufgeplusterten Schwanzfedern, erhobenem Haupt und gespreizten Füßen stolzierte er auf sie zu. Er posierte im Kreis, schlug aufgeregt mit den Flügeln und reckte sich in die Höhe.
„Na, du schönes Kind“, säuselte er, „willst du an diesem friedlichen Ort mit mir leben?“
Die Taube fühlte sich geschmeichelt. Vor ihr stand ein prächtiger Hahn.
„Auf dem Hof? Zusammen mit dir und den anderen Tieren?“, fragte sie entzückt.
„Ja“, posaunte er, „wir bekommen stets die besten Speisen und den frischesten Trank.“
„Das glaube ich wohl“, wisperte sie mit unschuldiger Stimme. „Aber sage mir, wie steht es um die Freiheit hier?“
„Freiheit? Was ist das?“, wunderte sich der Hahn mit wachsender Ungeduld.
„Könnt ihr den Hof verlassen, wann immer ihr wollt?“
„Was fragst du so merkwürdig, kleine Taube?“ Der Hahn schritt erhaben um sie herum. „Wir wollen nicht fort. Es gibt hier ausreichend Nahrung, Gesellschaft am Tag und trockene Schlafplätze in der Nacht.“
„Aber keine Freiheit“, widersetzte die Taube selbstbewusst.
Der Hahn starrte sie ungezügelt an.
Die Taube gurrte: "Beschützt du mich, sollte der Bauer kommen, mich zu holen?“
„Selbstverständlich“, protzte der Hahn näher tretend. „Ich passe stets auf meine Hühner auf. Auf dich würde ich besonders achtgeben.“
„So, so", schmunzelte die Taube. "Womöglich ergeht es mir am Ende wie dem armen Huhn?"

Dem Hahn schwoll der Kamm. Unter der Federpracht wurde ihm heiß und ungemütlich.
Die Taube genoss sein Unbehagen. Nach kurzer Überlegung rief sie mit fester Stimme:
„Es klingt verlockend, hier zu leben. Doch lohnt es nicht, dafür die Freiheit aufzugeben.“

Sie breitete die Flügel aus und flog mit dem Wind davon.
 (©Silke Boldt)




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